Seit 2 Monaten studiere ich in Italien. Über mein Erasmus-Semester soll ich einen Bericht verfassen, der standardmäßig so aufgebaut ist: Es war sehr schön, ich kann es empfehlen, ich war auf vielen Partys, ein bisschen was gelernt habe ich auch, tolles Wetter, tolles Essen, Ende. Auf CyberpunkJournalism blogge ich seit knapp 5 Jahren vor allem über Kunst, Kultur und Politik. Warum nicht auch über Kunst, Kultur und Politik in Italien? Kunst und Kultur waren schon dran. Jetzt kommt das Thema, das anscheinend viele meiner Freunde langweilt. Zu unrecht. Denn Politik ist bestenfalls nichts weiter als organisierte Realitätsbewältigung und schlimmstenfalls sture Realitätsverweigerung, die unseren Alltag bestimmt.
Während meines Auslandssemesters in Bologna lerne ich natürlich brav Vokabeln. Eine neue Vokabel, die ich gestern gelernt habe, ist: Eurofascismo. Eurofaschismus heißt der Trend, dem immer mehr Menschen in Europa folgen, genau 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Sinn der Sache ist, grob zusammengefasst: Wieder mehr Nationalismus statt ein vereintes Europa. Also einen Schritt vor und dann so viele zurück wie möglich. Gestern war ich auf dem Piazza Maggiore, wo unter anderem Matteo Salvini eine Rede hielt. Das ausgerechnet Silvio Berlusconi dem Auftritt des Lega Nord-Politikers Salvini beiwohnte, ist kein gutes Omen…
Der Polizeihubschrauber war so laut, dass ich morgens davon geweckt wurde, obwohl ich in Flughafennähe wohne, also mittlerweile ziemlich lärmresistent bin. Das stundenlange Surren schuf eine unheimliche, angespannte Atmosphäre.
Unheimlicher waren allerdings die (grob geschätzt) 20.000 Lega Nord-AnhängerInnen (Matteo Salvini sprach von 100.000, linke Quellen sprechen von 12.000 bis 16.000), die auf dem Piazza Maggiore ihrem Anführer zujubelten. Wie auch bei typischen Aufmärschen in Deutschland gab es eine friedliche Gegendemonstration, die von Hippies angemeldet und organisiert wurde und eine Antifa-Demo, bei der mal wieder alle Kräfte dafür verschwendet wurden, die Polizei und die Militärpolizei zu provozieren, bis diese gewohnt aggressiv reagierten. Während bei den filmreifen Straßenschlachten Flaschen flogen und Schlagstöcke geschwungen wurden, gab es bei den Hippies kaum Probleme, da immer wieder DemonstrantInnen mit der (Militär-)Polizei deeskalierende Gespräche führten.
Ich selbst stand mitten in der Lega Nord-Menge und machte mich über sie lustig, was – im Nachhinein betrachtet – keine gute Idee war. Wenn die Militärpolizei mich nicht rechtzeitig herausgezogen hätte, wäre mir das Lachen wohl sehr schnell vergangen. Die aggressiven Lega Nord-Anhänger werden von italienischen JournalistInnen immer noch als mitte-rechts oder gar konservativ eingestuft, doch tatsächlich handelt es sich um eine Mischung aus unpolitischen Hooligans, verbitterten “Früher war alles besser”-RentnerInnen à la Alternative für Deutschland… und dann sind da noch die zahlreichen FaschistInnen, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, was ich als in Deutschland geborene Europäerin mit Verwandten, die von den Nazis misshandelt und eingesperrt wurden, nur schwer ertragen kann.
Natürlich ließen sich die Hippie-DemonstrantInnen nicht aus der Ruhe bringen. Sie stimmen John Lennons “Imagine” an, eine hatte ihre Querflöte mitgebracht, ein paar andere Trommeln, Töpfe und Rasseln. Der auch in Deutschland oft auf linken Demonstrationen verwendete Spruch “Siamo tutti antifascisti” wurde skandiert, während eine Organisatorin dafür sorgte, dass zwischen DemonstrantInnen und PolizistInnen immer zwei Meter Abstand blieb. Ich kletterte auf ein Baugerüst, um einen besseren Überblick zu bekommen. Der Polizei war das herzlich egal. In Deutschland hätte man mich sofort dafür verhaftet und angezeigt. Meine neue Freiheit in Italien gefällt mir sehr gut. Die Frage ist nur, wie lange diese noch bleibt.
Die Hippies riefen auch meine neue Lieblingsparole “Bibiloteca – quella cosa strana!” (Sinngemäß übersetzt: Bibliothek, diese seltsame Sache, die ihr nicht kennt!)
Gegen Ende der Demonstrationen um 16 Uhr rückte die Militärpolizei langsam ab, überwachte aber weiterhin den Haupttreffpunkt der linken Studierendenorganisationen, Piazza Verdi. Auf meinem Weg ins Uni-Viertel musste ich durch eine Polizei-Kette. Die PolizistInnen sagten freundlich “Bitteschön” und räumten ihre Schilde aus dem Weg. ACAB? Nein, nicht alle Cops sind Bastarde. Bei Lega Nord sieht das ein bisschen anders aus.
Natürlich soll bei der Demo-Beschreibung nicht der eigentliche politische Hintergrund verloren gehen, denn ich schreibe schließlich nicht für die Springerpresse. Was Lega Nord fordert, lässt sich leicht zusammenfassen… denn simple “Lösungen” sind das, was gern gewählt wird: Ausländer sollen Italien verlassen, insbesondere Flüchtlinge und eigentlich alle, die arm sind, außer, Überraschung, Norditaliener. Wie der Name Lega Nord (= Liga Nord) schon andeutet, betrachten sie Norditalien (Mailand, Venedig, Rom, Bologna, …) als dem wirtschaftlich schwachen Süditalien überlegen und plädierten einst für eine Abspaltung. Matteo Salvini ist der Parteisekretär und das Gesicht von Lega Nord; er ist es auch, der die älteste Partei Italiens immer weiter nach rechts führt.
Parallelen zu Deutschland und der EU
In deutschen Talkshows fragen ModeratorInnen immer noch: ,,Wird die Stimmung bald kippen?” Intellektuelle antworten seit Monaten: ,,Sie ist bereist gekippt.” Oder als was würden Sie es bezeichnen, wenn Flüchtlingsheime brennen? Etwa als ,,angewandte Architekturkritik” (Zitat ,,Heute Show”)? Max Uthoff schnäuzte sich in der Satiresendung ,,Die Anstalt”, die mittlerweile vielmehr eine Nachrichtensendung ist, mit einem Taschentuch in Deutschlandfarben die Nase; Jakob Augstein hatte bereits 2012 einen öffentlichen Allergieanfall gegen Nationalismus (Bild 1: Phoenix, Bild 2: ZDF). Doch hunderttausende andere Deutsche sind wieder ,,besorgt” um ihr Land und steigern sich von Patriotismus in Nationalismus hinein. Man wünscht sich plötzlich wieder geschlossene Grenzen.
Ich bin im Dreiländereck Deutschland-Belgien-Niederlande aufgewachsen, habe jahrelang in Belgien gewohnt und bin in Deutschland zur Schule gegangen, am Wochenende fuhr die ganze Clique nach Holland. Ohne Grenzkontrollen. Uns ist nicht einmal aufgefallen, dass wir jeden Tag mehrmals zwischen Ländern wechselten. Auch wenn ich an die Urlaube denke, die ich als Kind mit meiner Familie in Polen verbracht habe, kann ich mich nicht an irgendwelche Grenzkontrollen erinnern. Ich habe noch keine geschlossene Landesgrenze in meinem Leben gesehen. Und ich wünschte, das könnte auch so bleiben.
Aber Nationalismus wird wieder stärker. In Italien, in Deutschland, Österreich sowieso, Schweden, England, Polen, die Schweizer Regierung tut gewohnheitsmäßig als würde sie nichts sehen und nichts hören… die Liste ist lang. Mal wieder wird nach unten getreten. Von Freunden aus Deutschland höre ich: “Die [Geflüchteten] kriegen 670 Euro im Monat! Das ist Baföghöchstsatz! Ich kriege keinen Cent Bafög!” Ja, 670 Euro sind schon viel Geld. Aber bitte: Schau’ dich in deinem Zimmer oder in deiner Wohnung um. Höchstwahrscheinlich hast du zusätzlich auch noch ein Kinderzimmer bei deinen Eltern. Stell dir vor, das wäre alles weg. Ich werde jetzt deine Bude abfackeln, inklusive aller deiner persönlichen Sachen. Danach rufe ich bei deinem Chef an und sage, dass du morgen nicht zur Arbeit kommst, weil du das Land verlassen hast. Hier hast du 670 Euro. Viel Spaß damit. Und jetzt geh’ dir gefälligst mal einen Job suchen, du fauler Sack.
Nationalismus heißt, sich anderen gegenüber privilegiert zu fühlen, einfach aufgrund der Tatsache, dass man zufällig hier und nicht woanders geboren wurde. Nationalismus heißt auch: Abschottung. Grenzzäune und -Mauern sind der Grund für erschwerte, gefährlichere Fluchtwege. Und was bringen diese gefährlichen Fluchtwege? Leichen an Europas Stränden.
Das Ganze hier mag etwas polemisch formuliert sein. Das liegt daran, dass ich wütend bin. Ich habe heute tausende Menschen rechten Politikern zujubeln gesehen und weiß, dass es gerade fast auf dem ganzen Kontinent so abläuft. Außerdem bin ich etwas enttäuscht. Die meisten, die ich gefragt habe, ob sie mit mir gegen Salvini & Co demonstrieren wollen, haben geantwortet: ,,Lass uns lieber was trinken gehen. Ich bin da ja eher unpolitisch.” Aber Hauptsache “Refugees Welcome”-Titelbild bei Facebook. Unpolitisch zu sein muss man sich leisten können.
Wie lange können wir es uns wohl noch leisten?
Aus den privaten Italien-Notizen von Mirjam Kay. Der Text gibt meine Meinung wieder, was sich an dem kleinen Wort “ich” unschwer erkennen lässt. Wenn Sie dazu Fragen haben, lesen Sie bitte zuerst das INTRO meines Blogs.
Weitere Informationen zur aktuellen politischen Lage in Italien auf
La Repubblica (Italienische Zeitung) .