Ma(n)chmal was mit Menschen – oder: Unorganisierte Realitätsbewältigung in Bologna

Studentinnen bei der Wohungssuche, Piazza Verdi. (Bearbeitung: Helligkeit und Kontrast, wegen mieser Handyqualität)
Studentinnen bei der Wohnungssuche, Piazza Verdi. (Bearbeitung: Helligkeit und Kontrast, wegen mieser Handyqualität)

 

Nun bin ich schon seit fast einem Monat in Bologna und dieser Monat war unheimlich schnell rum. Vielleicht vergeht die Zeit hier schneller, die gefühlt Zeit jedenfalls. Das liegt an den tausenden Dingen, die man in dieser Gegend machen kann, weil freundliche Menschen einen einladen, ganz egal, ob man sich kennt oder (noch) nicht. Bologna ist auf eine wunderbare Weise chaotisch, sodass man keinen Plan braucht, für nichts. Das ist wohl die berühmte Gelassenheit der SüdeuropäerInnen, mit der ich so langsam warm werde. Schön ist, dass die Busse immer genau so spät dran sind wie ich. Manchmal fahren sie auch gar nicht oder nicht dahin, wo man eigentlich hin will. Darüber habe ich mich anfangs noch aufgeregt. Wenn mir das jetzt passiert und ich deshalb morgens diesen oder jenen Kurs verpasse, gehe ich einfach frühstücken. Frühstück in Bologna ist übrigens Zucker mit Zucker und Zucker, Mittagessen gibt’s nicht wirklich und abends Fett in Fettmantel auf Fett. Garniert mit Fett. Fast alle hier sind nikotin- und koffeinabhängig. Dieser Lebensstil wird ausgeglichen durch Strandtrips und Nachtspaziergänge mit Hunden, für die man eigentlich keine Zeit hat. Nur mein Hippie-Nachbar ist zu cool dafür, er hat ein Hausschwein. Er trägt den, derzeit leider auch in Bologna beliebten, Berlin chic mit Knödelfrisur und Spiegelglas-Plastiksonnenbrille. Abgesehen von diesem Verbrechen haben die ItalienerInnen aber Stil: Gerade läuft mal wieder eine riesige Expo sowie die Fashion Week in Mailand, außerdem hat mich die Architektur in Bologna bisher jedes Mal umgehauen. Oft stehe ich mit dem Kopf in den Nacken gelegt und offenem Mund wie ein Vollidiot in Lernsälen, Bibliotheken oder Vorlesungsräumen, starre die Deckenfreskos an oder bestaune eine mit Anarchiezeichen besprühte Skulptur. Manche GraffitikünstlerInnen haben viel Talent, aber null Respekt vor historischen Gebäuden. Daraus ergibt sich ein Mix aus alter und neuer Malerei, der nach LSD-Trip aussieht.

Bologna Street Art

Manchmal hänge ich den ganzen Tag in irgendwelchen Räumen der Università di Bologna rum, scheibe ein bisschen was und genieße die Atmosphäre (Oder wie mein 16-jähriges Ich es damals beim erstmaligen Betreten der Uni Hamburg formulierte: “Es riecht nach Bildung!”). Die technische Ausrüstung hingegen ist nicht gerade fortschrittlich, sodass die Engineering & Architecture – Fakultät größtenteils ins Umland Bolognas verlegt wurde… weshalb ich wohl doch nicht aus Spaß in irgendwelchen Space Mission Design – Vorlesungen sitzen kann. Damn.

RobertFace

Ich habe ein bisschen beim Online-Sprachtest geschummelt, um nicht in den Italienischkurs für Anfängerinnen gesteckt zu werden. Jetzt muss ich also irgendwie im mittleren Kurs klarkommen, obwohl ich erst im vergangenen Semester angefangen habe die Sprache zu lernen. In drei Wochen haben wir sechs Zeitformen durchgepaukt, in ein paar Tagen ist die Klausur. Ich kann jetzt also auf Italienisch sagen: “Ein Salamander lief/läuft/ist gelaufen/wird laufen/liefe/würde laufen”, habe aber zu wenig Alltagsvokabular drauf, um meinen zukünftigen Boss am Telefon zu verstehen. Ja, ich habe einen Nebenjob gefunden oder besser gesagt: der Job hat mich gefunden. An meinem zweiten Tag in Bologna wurde ich gefragt, ob ich als Standista, also Hostess, für  Auto- und Motorradmessen arbeiten wolle. Natürlich nicht. Ich finde es abstoßend, dass Frauen zu Dekorationsobjekten herabgewürdigt werden. “Die Feministin in mir lacht sich kaputt, die Schreiberin geiert auf eine Gonzo-Reportage, die Motorradliebhaberin auf Ducati-Rabatt, die Studentin riecht Cash und die restlichen Stimmen streiten sich immer noch, ob es ‘carpe diem’ oder ‘yolo’ heißt.” Nach diesem Facebook-Post ermunterten mich Freunde und Bekannte, den Job anzunehmen und darüber zu schreiben. Zur Zeit liege ich allerdings krank im Bett, weil ich mit den harten Temperaturwechseln da draußen (Von 30°C auf 15°C und zurück!) überhaupt nicht klarkomme. Nun gammle ich also mit Erkältung und Sonnenbrand (trotz Mega-Sunblocker) vor dem Notebook rum und schreibe über das ach so harte Erasmus-Leben.

Ein bisschen lächerlich ist es ja schon: Ich jammere ständig darüber, dass mein Stadtrand-Zimmer in Flughafennähe so viel kostet wie meine komplette Wohnung in Deutschland; ich meckere rum, weil alle Lebensmittel hier locker 10% – 20% teurer sind als in Deutschland (8€ für Erdbeeren, wtf) und meine größten Probleme gerade sind Creditpoints, Bafög-Bürokratie und Kopfschmerzen. Was für eine Farce. Täglich kommen mir total abgemagerte, verstört wirkende junge Männer aus Nigeria oder Libyen entgegen, die fragen, ob ich ihnen ein Feuerzeug oder Taschentücher abkaufen würde, damit sie nicht betteln müssen. Das sind die Menschen, die immerhin nicht vor Lampedusa ersoffen sind, aber trotzdem von der E.U. im Stich gelassen werden. Und wenn ich 100 Feuerzeuge kaufe, die ich nicht brauche, dann ist damit immer noch keinem geholfen. Als einzelne Person kann man Symptome eines Problems bekämpfen. Für die großen Dimensionen, die Wurzeln des Problems, ist die Politik zuständig. Ich denke da an eine Freundin aus Österreich, die von sich gesagt hat, sie sei unpolitisch, weil Politik nicht wirklich was mit ihrem Leben zu tun hätte. Einen Monat später musste sie zum Semesterbeginn über die deutsch-österreichische Grenze. Die war aber blöderweise zu. Wegen des Flüchtlingsstroms macht die Europäische Union dicht und verrät damit ihre eigenen Werte. Ich habe den Großteil meiner Kindheit im Dreiländereck Belgien-Holland-Deutschland verbracht und verbinde daher mit allen drei Ländern mehr als Bier und Gras. Dass die Grenzen offen waren (zumindest für Menschen aus der E.U.), war für mich bis jetzt eine Selbstverständlichkeit; den anderen Scheiß kannte man ja nur aus dem Geschichtsunterricht. Meiner Meinung nach sind also die Leute, die sich mir gegenüber als “unpolitisch” geoutet haben, aber von Berufswegen oder aus Spaß zwischen Ländern pendeln, gezwungenermaßen politisch. Ab einem gewissen Punkt kann jemand mit gesundem Menschenverstand die Realität nicht mehr ignorieren… und Politik ist ja gewissermaßen nichts anderes als organisierte Realitätsbewältigung. Oder sollte es zumindest sein.

Wie man diesem Gefasel schon anmerkt: Gestern haben meine Seminare in Political Sciences begonnen (Literatur kommt nächste Woche dazu) und ich bin froh, “Europe in World Politics” gewählt zu haben, weil mir beim Zuhören, beziehungsweise beim Lesen der backsteinschweren Seminarlektüre, ab und zu tatsächlich mal ein Licht aufgeht. Außerdem hat sich mir heute mein Sitznachbar  J. vorgestellt, der ziemlich gut aussieht und im Gegensatz zu 99% der italienischen Bevölkerung hervorragend Englisch spricht. Das hier ist ein subjektiver Reisebericht und kein Manifest, also verzeiht mir bitte diesen Wechsel zwischen Oberlehrerhaftigkeit und Oberflächlichkeit. Außerdem habe ich immer noch fiese Kopfschmerzen und schreibe eher zur Selbstmedikamentierung sowie für meine zwei oder drei Stalker, die mir mehrfach vorgerworfen haben, ich würde nie autobiografisch schreiben, obwohl mein Leben spannender sei als meine Phantasie (das ist übrigens kein Kompliment, ihr Arschgeigen).

MostInterestingMan

In Italien habe ich so viele herzliche Menschen getroffen, dass ich wahrscheinlich total begeistert wäre, hätte ich nicht so meine klischeehaft-deutschen Probleme mit sozialen Situationen. Hier begrüßen mich wildfremde Erasmus-Studierende mit Küsschen. Ich denke dann nach über Herpes und so. Wenn ich alleine ans Meer fahre, um in Ruhe schwimmen zu können, schleppt man mich zu Strandpartys und lädt mich zum Essen ein. Darüber freue ich mich natürlich sehr, bin aber auch leicht genervt, weil ich wieder nicht zum Schreiben gekommen bin. Eine griechische Freundin will mir die Insel Lesbos zeigen (klingt nach Anmache), ein junger Dozent für Kommunikationswissenschaft und Satellitentechnik erinnert mich stark an eine eigene Buchfigur und ich will alles über seine Arbeit für die European Space Agency und sein Treffen mit einem

Fontana del Nettuno
Fontana del Nettuno

Nasa-Astronauten erfahren. Eine Freundin aus Litauen schleppt seit Wochen den superniedlichen Hundewelpen ihres Mitbewohners mit sich herum (funktioniert als Anmache; ich nenne sie die Paris Hilton dieses Erasmus-Jahrgangs). Kommunistische und anarchistische Studierendenorganisationen und Diskussionsgruppen laden mich zu ihren Veranstaltungen ein; sie sind nicht so verzweifelt-verbissen wie in Deutschland, denn in Bologna ist die Regierung links und der wichtigste Platz im Studierendenviertel (Piazza Verdi) gehört quasi der Antifa. Alles hier ist bunt, laut, anstrengend, kunstvoll, aufregend. Ich werde täglich erschlagen von den Möglichkeiten, die sich mir bieten. Meine KommilitionInnen kommen deutlich besser damit klar als ich; sie tanzen sozusagen auf allen Hochzeiten, ohne müde zu werden. Vielleicht trinken die auch einfach mehr Kaffee als ich und haben sich keine einsam-autistischen Schreibprojekte aufgezwungen. Schreiben scheint aber zu helfen, ich fühle mich schon etwas besser. Zu viele Möglichkeiten haben ist ein Luxusproblem. Vielleicht mache ich ja morgen was mit Menschen. Wenn nicht, lese ich eben dieses Seminarlektüremonstrum. Irgendwo muss man anfangen. Oder wie der große Philosoph Shia LaBeouf einst sagte: “What are you waiting for? DO IT!!!”

Klein Venedig in Bologna - Foto von Larreitz Stymest
“Klein Venedig” in Bologna  © Larreitz Stymest 
Sunset in Marina di Ravenna
Sunset in Marina di Ravenna
Kapitel ordnen. 'Nen Versuch war's wert.
Kapitel ordnen. ‘Nen Versuch war’s wert.

 

Der Original-Eintrag erschien am 26. September 2015 auf CyberpunkJournalism, dem Blog von Mirjam Kay Kruecken.

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